“Ich bin so lost“: Warum Jugendliche und Erwachsene sich ”verloren“ fühlen
Sich “verloren” zu fühlen, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Alle Menschen durchleben Phasen, in denen ihnen Orientierung und Halt fehlen. Jedoch scheint es so zu sein, dass sich Gefühle von Verlorenheit heutzutage stärker verbreiten, intensiver empfunden werden und länger anhalten. Aus vereinzelten Phasen ist zunehmend ein Lebensgefühl vieler Menschen entstanden: Wir sind in unserer Welt “lost” – sei es in der tatsächlichen, sei es in der medialen. Dabei kann das Verlorenheitsgefühl ganz unterschiedlicher Natur sein und von verschiedenen Ursachen herrühren. Allen Betroffenen gemeinsam aber ist das vorherrschende Gefühl, dass der Kontakt zu sich selbst, zu den eigenen Gefühlen und Wünschen unterbrochen oder gestört ist.
Selbstentfremdung: Wo lebt mein wahres Ich?
Manche Menschen beschleicht immer wieder das Gefühl, sich selbst verloren zu haben, nicht wirklich in Kontakt mit sich zu stehen, nicht mit den eigenen Emotionen verbunden zu sein. Häufig ergibt sich daraus für sie der vage Eindruck, nicht zu wissen, was sie wirklich fühlen und ziellos zu sein. Sie empfinden sich nicht als “sie selbst”, sie spüren, dass irgendetwas falsch ist, ohne es konkret benennen zu können.
Grund hierfür kann sein, dass Menschen tatsächlich ein falsches oder idealisiertes Bild von sich haben. Sie identifizieren sich mit Dingen und Personen, die ihrem ur-eigenen Selbst gar nicht entsprechen. Sie versuchen, etwas darzustellen oder meinen, etwas darstellen zu müssen. Sie lassen sich zu sehr von anderen Menschen oder den Medien beeinflussen. Sie übernehmen fremde Wertvorstellungen und Ziele, anstatt ihre eigenen zu verfolgen.
Ablenkung und Irreführung durch die mediale Welt
Die Ursache hierfür ist in vielen Fällen, dass unser Alltag zu viele Ablenkungen bereithält. Es ist leicht, sich stets mit Dingen oberflächlich zu beschäftigen. Es kostet Kraft und Mühe, sich mit sich selbst zu beschäftigen und auf sich selbst zurück geworfen zu sein – ohne Ablenkung durch Smartphone & Co. Für Jugendliche kommt oft der mediale Druck hinzu. Auf den sozialen Medien präsentieren perfekte Menschen ihr perfektes Leben und suggerieren, dass diese ideale Welt für jeden erreichbar ist, der sich nur Mühe gibt und ausreichend schön und clever ist...
Traumatisierung unterbricht Verbindung zu sich selbst
Ebenso können Traumata dazu führen, falschen Werten und Idealen anzuhängen, die einen vom “wahren Selbst” entfernen. Wer Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit erlebt hat, versucht dann unbewusst, ein Selbst aufzubauen, dass stark und geschützt ist. Das idealisierte Selbst strebt häufig nach Perfektionismus, möchte um jeden Preis stärker sein als andere und empfindet sich nur dann als wertvoll, wenn es besondere Leistungen vollbringt. Dadurch entstehen viele Ansprüche an sich selbst, nicht selten kommt es zu einer Überforderung und die eigenen Bedürfnisse werden ignoriert oder sogar geleugnet. Aus Angst vor den Gefühlen der Vergangenheit, können die Gefühle der Gegenwart nicht zugelassen werden.
Für andere da sein – und sich im Leben verloren fühlen
Doch auch ganz ohne Traumatisierung betrifft das Gefühl, sich selbst verloren zu haben, manche Menschen, die besonders hohe Ansprüche an sich selbst stellen. Sie leisten im Beruf Außergewöhnliches und fühlen sich außerhalb der Arbeit plötzlich leer. Oder sie versuchen alle an sie (vermeintlich) gestellten Ansprüche perfekt zu erfüllen: Sie möchten leistungsfähig bei der Arbeit sein, unterstützend für die Familie, attraktiv für den Partner und interessant für die Freunde. Und verlieren dabei sich selbst. Vernachlässigen ihre eigenen Bedürfnisse, erfüllen sich keine eigenen Wünsche, geben sich persönlich auf.
Grund hierfür ist in diesen Fällen, dass viele Menschen sehr im eigenen Alltag eingespannt sind: Beruf und Alltag kosten enorme Kraft und Zeit ist Mangelware. Die eigenen Ansprüche sind zu hochgesteckt und können in ihrer Gesamtheit nicht erfüllt werden, irgendetwas kommt immer zu kurz.
Die Folgen der Gefühle von Verlorenheit und Verbundenheit
Wenn das “Sich-Verloren-Fühlen” nicht nur zeitweise auftritt, sondern zum echten Problem wird, stellen sich diese Folgen ein:
- eine Unfähigkeit zu erkennen, wie die eigene Gefühlslage ist
- Schwierigkeiten, Entscheidungen zu fällen und sei es selbst bei nichtigen Dingen
- Schwierigkeiten, echte emotionale Verbindung zu anderen aufzunehmen; Empathie oder tiefer gehendes Interesse für andere zu empfinden
- Gefühl von Einsamkeit
- ein Gefühl der Überforderung, das so groß wird, das selbst kleine Dinge oder schöne Beschäftigungen Stress auslösen
Ganz im Gegensatz dazu steht das Gefühl, mit sich und dem eigenen Leben verbunden zu sein. Die Verbindung mit dem “wahren” Selbst ist geprägt von dem Wissen:
- Ich bin vollständig.
- Ich bin unabhängig und frei.
- Meine Gegenwart ist wichtiger als die Vergangenheit.
- Ich lebe im Einklang mit meinen Wünschen und Bedürfnissen, kann diese (zumindest teilweise) erfüllen und bin deshalb insgesamt glücklich.
Der “Lohn” dafür, mit mit sich selbst verbunden sein, besteht in:
- Selbstvertrauen ohne Selbstüberschätzung: “Ich kenne meine Grenzen und bin offen für das, was darüber hinaus möglich ist.“
- Selbstliebe ohne Selbst-Überhöhung: “Ich akzeptiere mich so, wie ich bin.”
- Zufriedenheit und Glück: “Ich liebe jemanden oder etwas und kann Glücksgefühle aus meiner Liebe schöpfen.”
Der Schlüssel gegen das Gefühl der Selbstentfremdung und des Gefühls, verloren zu sein, ist sich selbst und die eigenen Gefühle gut zu kennen. Die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse zu verstehen und so zu leben, dass diese nicht zu kurz kommen und zu verkümmern drohen. Wie kann das gelingen?
Selbsthilfe: Die Verbindung finden
Sich selbst zu “finden”, um dem Gefühl verloren im Leben und in dieser Welt zu sein, zu entkommen, ist auf verschiedene Weise möglich. Zunächst müssen wir, zumindest gedanklich, aus unserem Alltag aussteigen, innehalten. Eine gute Idee ist es, sich bewusst Zeit für sich selbst zu nehmen und diese “Auszeiten” als eine Art Routine zu begreifen. In der nur für sich selbst reservierten Zeit können nun verschiedene Dinge stattfinden. Bewährte Dinge sind:
- Tagebuch schreiben
- etwas Kreatives tun
- Sport treiben
- Entspannungsübungen
- Meditation
Alle diese Tätigkeiten sollen die Selbstreflektion unterstützen. Auch ein Gespräch mit einer vertrauten Person kann für Selbstreflektionen genutzt werden. Beim Tagebuch-Schreiben können sich Betroffene langsam dem nähern, was sie wirklich wünschen, was ihre wahren Bedürfnisse sind. Wer das auf Anhieb nicht weiß – und das ist ja die Krux der Selbstentfremdung – kann sich mit einem kleinen Trick behelfen und zunächst herausfinden, was er oder sie um keinen Preis will oder was belastet. Die negativen Dinge bilden sodann einen ersten Ansatzpunkt dafür, das Gegenteil dessen zu finden.
Persönliche Werte: Wichtige Orientierung
Werte dienen als innerer Kompass, der Orientierung in einem komplexen Leben bietet. Sie sind tief verwurzelte Überzeugungen und Prinzipien, die unser Handeln und unsere Entscheidungen beeinflussen. Indem wir unsere persönlichen Werte identifizieren und ihnen entsprechend agieren, empfinden wir unser Leben als erfüllt und sinnvoll. Werte helfen dabei, eine klare Richtung im Leben zu finden und sich von äußeren Einflüssen unabhängiger zu machen. Sie sind immer hochindividuell und unterstützen uns dabei, in der Gegenwart zu leben. Wenn wir ihnen folgen, fühlt sich das immer richtig an.
Sie fühlen sich verloren? Hilfe und Unterstützung von außen
Sie denken häufiger: “ich fühl’ mich verloren” und brauchen jemandem zum Reden? Dann kann auch eine Selbsthilfegruppe oder eine Gesprächstherapie sehr hilfreich sein. Unsere Psychotherapie in Berlin bietet Ihnen darüber hinaus Verhaltenstherapie, die Ihnen hilft, falsche Ideale oder eingelernte Glaubenssätze neu zu bewerten und in positive Gedanken und Gefühle umzuwandeln. Auch diverse Entspannungstechniken können Sie in einer solchen Therapie erlernen.
Manche Menschen erleben ein Gefühl des Verloren-Seins schon länger oder besonders ausgeprägt, sodass sich ihr emotionaler Haushalt bereits stark verschlechtert hat und ihre Lebensqualität beträchtlich eingeschränkt ist. In diesen Fällen empfiehlt sich eine Therapie gegen Depression oder eine Psychotherapie bei Einsamkeit. Nehmen Sie gern Kontakt zu meiner Praxis auf: Wir beraten Sie gern.
Professionelle Hilfe ist außerdem angeraten, wenn die Probleme weit über das Gefühl “verloren” zu sein, hinaus gehen: Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn eine Form der Depersonalisation und Derealisation vorliegt. Hierbei handelt es sich um eine tiefgreifende psychische Störung, die unbedingt therapeutisch begleitet werden muss.